Summen(Teilen)

Beim Lesen von Yoko Ogawas wundervollem Buch Das Geheimnis der Eulerschen Formel kam mir die erst noch vage Idee, das Phänomen der Befreundeten Zahlen in irgendeiner Weise zum Komponieren von Musik zu nutzen.

Im Wikipedia-Artikel über Befreundete Zahlen (s.o.) wird Pythagoras' Antwort auf die Frage erwähnt, was ein Freund sei: „Einer, der ein anderes Ich ist, wie 220 und 284.”
Dieses kleinste befreundete Zahlenpaar steht in Ogawas Buch als Metapher für die Freundschaft eines alten Mathematikprofessors mit seiner Haushälterin und ihrem zehnjährigen Sohn.
Das Kurzzeitgedächtnis des alten Mannes reicht nur noch 80 Minuten zurück, und so ist die zeitlose Welt der Zahlen der Ort, in dem diese Freundschaft immer wieder neu entstehen kann.

Musik wird manchmal auch als klingende Mathematik bezeichnet – der damit bezeichneten Abstraktion steht die emotionale Bewegung zur Seite, die Musik auslösen kann und will.

Und so wuchs während meiner Arbeit an dem Stück, das schon bald den Titel Summen(Teilen) bekam, inmitten der Tabellen von Zahlenfamilien zur Bestimmung von Tonhöhen, Dauern, Lautstärken und Klangfarben die Vorstellung eines mehrsätzigen Zyklus, der die Bedingungen des Zusammenlebens von uns Menschen thematisieren sollte.

Der erzählerische Charakter des durchaus seriellen ersten Satzes entsteht nicht so sehr durch meine kompositorische Absicht, sondern indem die gesetzten Elemente miteinander in Beziehung treten, einander „etwas zu sagen haben”.

Einige kompositorische Details (nicht lesen):

Eine grundlegende Entscheidung war, (wie erwähnt) seriell zu komponieren und eine Referenz zu der in Ogawas Roman präsenten japanischen Kultur herzustellen.
Dies geschieht durch die Erstellung eines „dodekaphonen Haikus”. In der westlichen Übertragung dieser Gedichtform besteht ein Haiku aus 3 Zeilen mit einem Silbenrhythmus von 5 + 7 + 5, insgesamt also 17 Silben.
Mein dodekaphones Haiku ist eine Reihe aus 17 Tonhöhen:

hcesd cisabf egasges cisdesc h
5-Ton-Motiv 7-Ton-Motiv 5-Ton-Motiv (Krebs)
12-Ton-Reihe


Dieser Architektur entspricht ein dreiteiliger Formplan mit den Proportionen (gemessen in Vierteln bei einem Tempo von MM = 60):

                                                                                    
 A B C
 64 220 64
284
 284

Weitere zeitliche Unterteilungen bis hin zu den Einsatzabständen einzelner Töne folgen der Formel 5 + 7 + 5 = 17.

Während der gesamten Dauer von 348 Vierteln gibt es einen – im Teil B auch hörbaren – Durchlauf des dodekaphonen Haikus in der tiefen Basslage. Je nach Abstand (Anzahl der kleinen Sekunden) der zu dieser Bassstimme in verschiedenen Oktavlagen erklingenden Töne ergibt sich für die resultierende Zahl die Zugehörigkeit zu einer von 12 „Zahlenfamilien”, die wiederum in eine Instrumentierung übersetzt wird.
Durch eine gewisse Variationsbreite in dieser Übersetzung ist sichergestellt, dass die Töne auch wirklich von den Instrumenten gespielt werden können.