SEHEN ► Texte ► Über Wasser − 3 Gedichte: Tränen


2. Satz: Lachrymae

Hier geht es um den psychischen Aspekt von Wasser. Wer „nah am Wasser gebaut hat”, dem kommen schnell die Tränen als Ausdruck von Trauer, aber auch von Freude.
Als künstlerische Referenz dienten mir 2 Werke:

Sarah Stonichs Buch These Granite Islands (deutsch: Die Hutmacherin) und John Dowlands berühmte Lachrymae Pavan.

Aus Stonichs Buch haben mich 4 Sätze in der Einleitung sehr angerührt – zwei Frauen sitzen am Strand:

„ [. . .] A tear fell then to the pebbly sand, where it was taken by the lazy tongue of surf. One drop of a woman's sorrow or happiness pulled away, absorbed into the grey song of a glacial lake. Looking away from where the tear had fallen, they glanced in the same direction but saw different things. One noticed the long shadow cast over the water, the other saw distant islands strewn like musical notes.” *

Und hier der Text von Dowlands Pavane:

„Flow my tears,
fall from your springs.
Exiled forever
let me mourn
where night's blackbird
her sad infamy sings,
there let me live forlorn.

Down vain lights,
shine you no more.
No nights are dark enough
for those that in despair
her dark tunes deplore,
light doth but shame disclose.

Never may my woes be relieved.
Since pity is fled
and tears, and sighs, and groans
my weary days, my weary days
of all joys have deprived.

From the highest spire of contentment
my fortune is thrown,
and fear, and grief, and pain
for my desserts, for my desserts
are my hopes since hope is gone.

|: Hark, you shadows
that in darkness dwell,
learn to condemn light.
Happy, happy they that in hell
feel not the world's despite. :|


Während Sarah Stonichs Worte mir eher zur programmatischen Einstellung verhalfen, dass aus dem Zulassen von Trauer und deren Auflösung in Tränen Hoffnung und Zuversicht entstehen können, diente Dowlands Text als Folie zur formalen Strukturierung eines Prozesses von auf der Stelle tretender Wiederholung hin zu Aufbruch und Weiterentwicklung.

Diesen Prozess habe ich – als das Stück schon fertig komponiert war – noch einmal poetisch im Haiku Tränen formuliert. Dessen Silbenrhythmus ist 2 x (5 + 7 + 5) [= 34, Fibonacci grüßt!].


* [Sarah Stonich, These Granite Islands, Little, Brown and Company, New York 1999;

deutsche Übersetzung von Franca Fritz und Heinrich Koop (Die Hutmacherin, List Taschenbuch, 1. Aufl. 2002):

[ . . . ] Eine Träne fiel auf den Kieselstrand, wo sie von der trägen Zunge der Brandung fortgespült wurde. Ein Tropfen des Kummers oder der Freude einer Frau wurde vom grauen Gesang des Gletschersees verschlungen. Als sie vom Wasser aufschauten, wo die Träne verschwunden war, blickten sie in dieselbe Richtung, sahen jedoch unterschiedliche Dinge. Die langen Schatten, die über das Wasser fielen, die eine – die andere erkannte in der Ferne Inseln, die wie Musiknoten verstreut im See lagen.