11 'fifty−two
Zeit- und Klangorganisation

Der November des Jahres 1952 (beginnend mit einem Samstag und endend mit einem Sonntag) bildet auch eine grundlegende Zeitstruktur:
30 Tage = 30 Minuten, 1 Tag = 1 Minute = 24 Takte à 4 Viertel, was zu einem Haupttempo von MM = 96 führt; eine Präambel (1. November) von 1 Minute Dauer, 4 Sätze von je 7 Minuten Dauer (die 4 Wochen des Monats), ein letztes Abklingen von 1 Minute Dauer (30. November) plus eine Hallfahne.

Es gibt ein musikalisches „Erkennungszeichen” für die H−Bombe: der Ton H erklingt während der Präambel und als letzter Ton des Abklingens am Ende des Stückes.
Die vier Sätze verhalten sich in unterschiedlicher Weise zum Schrecken des 1. November 1952: canto kann als Klage über die rücksichtslose Zerstörung des Lebens gehört werden, anecdotes gewährt Einblicke in das bürgerliche Alltagsleben mit seinen Zerstreuungen, marcia funèbre betrauert die Toten und fusion organisiert eine Zusammenkunft des Zorns gegen die Mächte des Bösen.

Als eine Art kosmisches Hintergrundrauschen wird der Sonnenlauf (d. i. die Erdumdrehung) durch 24 Solo-Streicher in einer ständigen Auf- und Abwärtsbewegung dargestellt, während der Mond von der Harfe „gespielt” wird, welche die Tonhöhen der Streicher abfärbend in unterschiedlichen Oktavlagen je nach aktueller Mondphase übernimmt. Dies verweist auch auf die Streicher in Charles Ives' The Unanswered Question, wo sie das „Schweigen der Druiden, die Nichts Wissen, Sehen und Hören” repräsentieren.

Diese ständig kreisende Schicht tastet Earle Browns Grafik senkrecht in abwechselnder Auf- und Abwärtsbewegung ab, in einer Geschwindigkeit von 1 Linie bzw. Zwischenraum pro Sechzehntel-Note – da es 50 Linien und 49 Zwischenräume gibt, dauert also eine Lesung 99 Sechzehntel.
Die Tonhöhen werden entsprechend der auf- und absteigenden Bewegung der Sonne gewählt, Sonnenaufgang und -untergang liegen im Bereich von c1, der Richtungswechsel der Bewegung geschieht an den projizierten kosmischen Zeitpunkten von Mittag (medium coeli) und Mitternacht (imum coeli).

Das Gegenstück zu dieser vertikalen Lesung findet sich im 4. Satz – fusion – wenn eine zunehmende Anzahl von Blasinstrumenten in einer gleichzeitig abnehmenden Anzahl von Lesungen horizontal durch die Grafik liest – bis in der Mitte des Satzes (26. November) eine einzige Lesung durch die Grafik als Ganzes Earle Browns Nov. '52 hörbar zu machen scheint – mit den pedalisierten Streichertönen als horizontale Linien und den Bläsern, die die 34 Tonereignisse darüber verstreuen.

Neben der schon erwähnten Referenz auf Charles Ives gibt es noch einige weitere Zitate und Beziehungen, die hier erwähnt werden sollen:

canto verwendet die All-Intervall-Reihe aus Luigi Nonos Il canto sospeso, die Instrumentation dieses musikalischen „Fächers” folgt der von Arnold Schönberg am Ende seiner Harmonielehre skizzierten Idee der Klangfarbenmelodien.

In anecdotes (welches als Ganzes auf Luc Ferraris Konzept der „Anekdotischen Musik” verweist) erklingen Ausschnitte aus TV Soaps und anderem Müll sowie – recht ins Ohr gehend – der Anfang von Beethovens Pastorale (Sinfonie Nr. 6, op. 68).

marcia funèbre zitiert die Architektur von Anton Weberns marcia funèbre (Nr. 4 der 6 Stücke für Orchester op. 6 [a]), neu gefüllt mit Lesungen durch Earle Browns Partitur (diesmal mit Vorzeichenfiltern). Im Hintergrund (tatsächlich wie aus einer Gruft ertönend) hören wir kaum wahrnehmbar drei für Klavier komponierte Trauermärsche:
Kleiner Trauermarsch KV 453a von Wolfgang Amadeus Mozart,
Marcia Funebre sulla morte d'un Eroe aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 12 op. 26 und
Frédéric Chopins Marche Funèbre pour piano op.posth. 72, Nr. 2.