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8. Pasticcio

Ähnlich wie im 5. Stück ist hier eine „Doppel-Paraphrase” komponiert. War es dort die Idee des Anfangs, prototypisch vorgefunden in Beethovens 9. Sinfonie und „mit Bernhard Trautvetters Text instrumentiert”, so ist es hier das Bild eines Menschen am Abhang, diesmal „vorkomponiert” durch Franz Schubert – die genaue Quellenangabe lautet:

Der Hirt auf dem Felsen, op. posth. 129, D.V. 965
Lied für Sopran mit Klarinette (Violoncello) und Klavierbegleitung nach Texten von Wilhelm Müller (Strophen 1 – 4) und Wilhelmina von Chézy (Strophen 5 & 6)

Im Folgenden der Text des Liedes:

1. Wenn auf dem höchsten Fels ich steh',
Ins tiefe Tal hernieder seh',
Und singe.
Fern aus dem tiefen dunkeln Tal
Schwingt sich empor der Widerhall
Der Klüfte.

2. Je weiter meine Stimme dringt,
Je heller sie mir wieder klingt
Von unten.

3. Mein Liebchen wohnt so weit von mir,
Drum sehn' ich mich so heiß nach ihr
Hinüber.

4. In tiefem Gram verzehr ich mich,
Mir ist die Freude hin,
Auf Erden mir die Hoffnung wich,
Ich hier so einsam bin.

5. So sehnend klang im Wald das Lied,
So sehnend klang es durch die Nacht,
Die Herzen es zum Himmel zieht
Mit wunderbarer Macht.

6. Der Frühling will kommen,
Der Frühling meine Freud',
Nun mach ich mich fertig
Zum Wandern bereit.


Auch für die 8. Paraphrase gibt es wieder eine „thematische” Zahl, aus der Parameter und ihre Einstellungen auf vielfältige Weise abgeleitet sind, nämlich die Zahl 3.

So war – noch bevor der Einfall mit dem Schubert-Lied auftauchte – schon klar, dass hier ein 3-Ton-Stück erklingen sollte und zwar mit den 3 Tönen des F‑Dur–Dreiklangs f, a und c (im Sinne von 'Haupt-Tönen', durch Verwandlung von a zu as sollte auch f−moll entstehen können u. a. m.).

Und so fügte sich auch die Schubert-Vorlage, als die Idee dann kam, sehr passend in die Planung ein:

3 Instrumente (Singstimme, Klarinette, Klavier),
3 Formteile (Andantino, Adagio, Allegretto)
entsprechend drei „Akten” der Handlung.

Als erste kompositorische Maßnahme wurde das gesamte Schubert-Lied „resampled”, d. h.: um eine Quinte von B−Dur nach F−Dur transponiert und gleichzeitig im selben Verhältnis (3 : 2) beschleunigt (aus den Metronom-Angaben MM = 90 bzw. 110 bzw. 120 wurden die Tempi MM = 135 bzw. 165 bzw. 180).

Für die Darstellung der 3 „Schubert-Instrumente” wurden 3 Klangmaterialquellen herangezogen:

Der Titel der Paraphrase – Pasticcio – bezieht sich einerseits auf Schuberts Verfahren, im 3. Teil seiner Vertonung Teile der beiden Texte („Je weiter meine Stimme dringt . .” und „Der Frühling will kommen . .”) ineinander zu collagieren, andererseits bezeichnet er meine Arbeitsweise bei der Komposition dieses Stückes: nämlich Schuberts Lied als eine Folie zu nehmen, auf die Materialien aus den oben genannten Quellen (oft kleinste Schnipsel) oder aus diesen Materialien erzeugte musikalische Vorgänge collagiert werden.
Die Musik „klebt” also an Schubert, löst sich allerdings auch mitunter. Verschiedene Aspekte spielen dabei eine Rolle:

Die „Szenerie”: jemand befindet sich in den Bergen, ruft / singt und hört sein eigenes Echo als die Stimme eines (einer!) Anderen.
Schubert komponiert das als Wechselspiel zwischen Stimme und Klarinette mit zunehmender rhythmischer Dichte und Überlagerung, – meine Mittel führen weiter:
Vokalklänge werden instrumental, klingen in Richtung Blas- oder Schlaginstrument, Klarinettenklänge nähern sich Vokalklängen (sehr prägnant die an Walgesänge erinnernden Glissandi), klangliche Räumlichkeit wird im 1. und auch 3. Teil überhöht.

Im 2. Teil („In tiefem Gram verzehr ich mich . . .”) wird die depressive Stimmung des Textes durch eine extrem „enge” Akustik umgesetzt – kein Hall, alles trocken (Schubert nimmt hier die parallele Molltonart).
Die aufkommende Aufbruchstimmung zum Ende des 2. Teils und im 3. Teil führt zu rhythmischer Verdichtung und schließlich zu einer bis dahin aufgesparten Erweiterung des Tonhöhenmaterials zum 12‑tönigen Total.

Tonhöhendisposition: meine Haupttöne f, a und c werden zunächst im Schubert-(Noten-)Text gesucht, ganz so, als ob drei steilflankige 'Kompositions-' Resonanzfilter gesetzt wären. Zwischentöne (die restlichen) erklingen zunächst nicht oder „verwaschen”, z.B. übersetzt in Glissandi.
Die Vorstellung, dass sich die Stimme vom Urheber löst, auf Reisen geht und verwandelt zurückkommt, führt aber dazu, dass immer wieder plötzlich andere Töne auftauchen, zwischen zwei Schubert-Stellen die Musik auf einmal „fremde” Wege geht.
Insbesondere der Klavierpart, welcher in der Vorlage eine eher untergeordnet tragende Rolle spielt (Akkorde in mehr oder weniger stereotyper rhythmischer Bewegung), wird hier aufgewertet, bekommt virtuose Einwürfe.

Textbehandlung: Wie schon erwähnt, stammt das verwendete Sprachmaterial aus dem Trautvetter-Text und wird in den beiden Außenteilen dieser Paraphrase weitgehend als Instrumentalklang behandelt. Lediglich im Mittelteil werden Wilhelmina von Chézys Worte quasi mit fremder Zunge artikuliert, wie eine Stimme, die im Kopf herumspukt.


Interessante Hinweise verdanke ich Georgine Balks Arbeit Schubert als Dichter: „Der Hirt auf dem Felsen” - Lied oder musikdramatische Szene?, erstellt im Wintersemester 2003/2004 im Rahmen des Hauptseminars DAS LIED IN DICHTUNG UND MUSIK: BEETHOVEN – SCHUBERT am Institut für Musikwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Die Arbeit ist als Dokument Nr. 29727 in den Wissensarchiven des GRIN Verlags erschienen.