11 'fifty-two
Die Partitur lesen

Wie viele andere Arbeiten Earle Browns setzt Nov. '52 eher
einen Ausgangspunkt für Erfindungen statt den Ausführen-
den vorzuschreiben, was sie tun sollen. Mein Ansatz war,
mich wie ein solcher Ausführender zu verhalten – wobei mein
Instrument das Komponieren sein sollte.
Allerdings: Nov. '52 als Partitur für eine Komposition zu be-
greifen resultiert in einem Kontrapunkt zu Earle Browns Ab-
sicht der Unbestimmtheit – jeder Lesevorgang führt zu einer
Menge von Entscheidungen und damit zu einer Art von ge-
schlossener Form (so wie es auch aufführenden Musikern
geschieht: sobald der Klang das Instrument verlassen hat,
ist er nicht mehr rückholbar).

Anders als December 1952, welches durch seine einfachen
geometrischen Zeichen (schwarze Rechtecke in rechtwinkli-
ger Anordnung) sehr viel Raum für die Vorstellung lässt, ver-
wendet Nov. '52 bekannte Elemente der traditionellen Musik-
notation: waagerechte Linien, Noten, Bindebögen und Dyna-
mikangaben. Obwohl es eine spürbare Anmutung von „oben“
und „unten“, „links“ („Anfang“) und „rechts“ („Ende“) gibt, ist
nicht mit Bestimmtheit gesagt, in welcher Richtung die Par-
titur zu lesen sei. Die 50 waagerechten Linien suggerieren
Notensysteme, denen der Abstand zueinander abhanden ge-
kommen ist – oder bilden sie eine Art Zeitraster, das vertikal
gelesen werden soll (kann)?

Meine Technik war, eine Menge von (theoretisch) allen mögli-
chen Lesarten der Partitur aufzustellen und damit nach Zeit-
strukturen, Tonhöhen und Klängen zu suchen.
Doch bevor dies überhaupt einen Sinn ergeben konnte, waren
noch einige allgemeinere Entscheidungen zu treffen: Zeitdauer
insgesamt? Welche Instrumente? und (tatsächlich das Wich-
tigste): welche – wenn überhaupt – Inhaltlichkeit?

Meine Nachforschungen über den November 1952 erbrachten
schnell eine Art magnetischen Pol: Am 1. November 1952 zün-
deten die USA die erste Wasserstoffbombe und löschten damit
die kleine Insel Elugaleb von der Landkarte des Südpazifik.
Dieses Ereignis erdete die eher naturalistische Wahrnehmung
des Novembers als grauer, trister Monat des Totengedenkens in
einem historisch-politischen Zusammenhang.